Leo Ornstein

*  11. Dezember 1893

†  24. Februar 2002

von Mauro Piccinini

Essay

Ornsteins Klavierstücke sind Hervorbringungen eines virtuosen Pianisten mit großem intuitivem Talent. Hauptsächlich in der kurzen Zeit vor und während des 1. Weltkriegs entstanden, begründeten sie seinen avantgardistischen Ruhm. Von Mitte der 20er- bis in die 60er-Jahre komponierte er wenig und häufig nur zu didaktischen Zwecken.

Zu seinen frühen Werken zählen kurze, gefällige Klavierstücke, meist dreiteilige Formen ohne besondere Substanz: Suite russe op. 12 (1912), Six Lyric Fancies op. 10 (vor 1913). Seit 1913, während seiner Konzert- und Fortbildungsreise durch Europa, begann Ornstein, unabhängig von jeglicher anerkannter Tradition, komplexere Werke zu schreiben. Er skizzierte sein 1. Streichquartett (1914) und ein Quintett für Klavier und Streichquartett [Nr. 1] op. 49 (1914), besuchte Wien und bereiste die Schweiz, traf sich in Berlin mit Theodor Leschetitzky und Feruccio Busoni. In einem Konzert in Oslo (1913) wagte er es erstmals, eigene Werke aufzuführen, worauf die Presse kommentierte, er habe „wohl den Verstand verloren“ (zit. n. Martens [1918] 21975, 20). Bei seiner Rückkehr nach Paris traf er den Pianisten Harold Bauer und den Musikkritiker Michel Calvocoressi, die seine Werke angemessen würdigten. Calvocoressi, der erstaunt war, dass eine solche Musik in New York ihren Ursprung haben sollte, ...